Komplementärmediziner Dr. Christian Thuile über die Kraft der Berge

Von der Kühle der Gipfel ist in Lana, einem Dorf in der Nähe von Meran, manchmal nichts zu spüren. Die Schwüle drückt auf Mensch und Natur. „Viel trinken“, rät Dr. Christian Thuile an solchen Tagen im Radio. „Wer zu Kopfschmerzen neigt, greift am Besten zu Sprudel.“ Vermutlich schlagen die Verkaufszahlen für Sprudel in Südtirol nach seiner Durchsage alle Rekorde – wenn eine Stimme heilsame Kräfte haben kann, dann seine. Man vertraut ihm ungesehen. Begegnet man ihm, verstärkt sich das Gefühl, in guten Händen zu sein. Der gebürtige Bozner ist groß, sehnig, mit einem freundlichen Gesicht und aufmerksamem Blick. Ein Mensch, den es keine Mühe kostet, zuzuhören, andere ernst zu nehmen. Der 42-Jährige ist Allgemeinmediziner, behandelnder Arzt von Spitzensportlern und seit Mai 2009 auch ärztlicher Leiter des Pilotprojekts Komplementärmedizin am Krankenhaus in Meran. „Der Unterschied zwischen alternativer und komplementärer Medizin ist ein feiner, aber wichtiger“, erklärt Thuile. „Die alternative Medizin sieht sich als Ersatz der Schulmedizin. Die Komplementärmedizin ist eine Ergänzung.“ Er glaubt daran, dass komplementäre Heilverfahren die Behandlung eines Patienten unterstützen können. „Eine natürliche, energiereiche Medizin ist dem Menschen näher als alles Chemische. Wir müssen deswegen vor der Chemie keine Angst haben, aber es ist einfach an der Zeit, sich einer natürlicheren Medizin zuzuwenden und Synergien zu bilden.“

Für Thuile sind die Berge wie natürliche Medizin. „Wenn ich müde bin oder gestresst, dann zieht es mich auf den Berg. Dort oben scheint alles leichter.“ Manchmal geht er nur spazieren, genießt die Aussicht. Manchmal nimmt er die Laufschuhe mit, um sich beim Höhentraining auszupowern. „Ab 1.800 Metern setzt der Höheneffekt ein.“ Der Berg wird zum Energiespender, weil der Körper auf den abnehmenden Sauerstoffgehalt der Luft reagiert. „Der Körper produziert das Hormon Erythropoetin oder Epo, das die Bildung roter Blutzellen in den Stammzellen des Knochenmarks anregt.“ Die roten Blutkörperchen binden in der Lunge Sauerstoff und transportieren diesen zur Versorgung von Gehirn, Muskulatur und Organen. „Das führt zu einer erhöhten Leistungsfähigkeit, zu einer besseren Verbrennung und schnelleren Regeneration.“ Man hat plötzlich viel mehr Energie. Allerdings setzt dieser Effekt erst nach ein paar Tagen auf dem Berg ein. „Anfangs ermüdet man schneller, muss viel rasten.“

Tatsächlich funktioniert Höhentraining so gut, dass sich Spitzensportler sogenannte Höhenkammern in ihre Häuser bauen lassen oder – im Wettkampfsport illegal – synthetisches Epo spritzen. „Das ist Doping und nicht ungefährlich“, so Thuile. Außerdem bringen sich die Sportler beim „Höhentraining“ zu Hause um einen wichtigen Nebeneffekt: „Da ist der Ausblick, das Gefühl, über den Dingen zu stehen“, zählt der Arzt auf. „Dann die saubere Luft, die auf dieser Höhe fast frei ist von Feinstaub und Pollen.“ Ein wichtiger Erholungsaspekt für Allergiker. „Der Schlaf ist dort oben tiefer. Es ist ruhiger. Man regeneriert besser.“ Er blinzelt in die Sonne. „Und da ist die erhöhte UV-Strahlung in den Bergen, die stimmungsaufhellend wirkt.“ Ein Tag in den Bergen ist also wie ein leichtes Antidepressivum? Thuile sieht hinauf zu den Gipfeln der Laugenspitzen, die über Lana aufragen und lächelt. „Er tut der Seele gut.“ Besser, er sagt das nicht im Radio. Dann wäre es mit der Ruhe auf dem Gipfel ganz sicher vorbei.